Texte

 

Eichendorff - Sehsucht

Es schienen so golden die Sterne,
Am Fenster ich einsam stand
Und hörte aus weiter Ferne
Ein Posthorn im stillen Land.
Das Herz mir im Leib entbrennte,
Da hab ich mir heimlich gedacht:
Ach, wer da mitreisen könnte
In der prächtigen Sommernacht!
 
Zwei junge Gesellen gingen
Vorüber am Bergeshang,
Ich hörte im Wandern sie singen
Die stille Gegend entlang:
Von schwindelnden Felsenschlüften,
Wo die Wälder rauschen so sacht,
Von Quellen, die von den Klüften
Sich stürzen in die Waldesnacht.
 
Sie sangen von Marmorbildern,
Von Gärten, die überm Gestein
In dämmernden Lauben verwildern,
Palästen im Mondenschein,
Wo die Mädchen am Fenster lauschen,
Wann der Lauten Klang erwacht
Und die Brunnen verschlafen rauschen
In der prächtigen Sommernacht.

 

Else Lasker-Schüler - Weltende

Es ist ein Weinen in der Welt,
als ob der liebe Gott gestorben wär,
und der bleierne Schatten, der niederfällt,
lastet grabesschwer.

Komm, wir wollen uns näher verbergen ...
Das Leben liegt in aller Herzen
wie in Särgen.

Du, wir wollen uns tief küssen ...
Es pocht eine Sehnsucht an die Welt,
an der wir sterben müssen.

 

Georg Heym - Die Stadt

Sehr weit ist diese Nacht. Und Wolkenschein
Zerreißet vor des Mondes Untergang.
Und tausend Fenster stehn die Nacht entlang
Und blinzeln mit den Lidern, rot und klein.

Wie Aderwerk gehn Straßen durch die Stadt,
Unzählig Menschen schwemmen aus und ein.
Und ewig stumpfer Ton von stumpfem Sein
Eintönig kommt heraus in Stille matt.

Gebären, Tod, gewirktes Einerlei,
Lallen der Wehen, langer Sterbeschrei,
Im blinden Wechsel geht es dumpf vorbei.

Und Schein und Feuer, Fackeln rot und Brand,
Die drohn im Weiten mit gezückter Hand
Und scheinen hoch von dunkler Wolkenwand.

 

Erich Kaestner - Sozusagen in der Fremde

"Sozusagen in der Fremde" von Erich Kästner
Er saß in der großen Stadt Berlin
an einem kleinen Tisch.
Die Stadt war groß, auch ohne ihn.
Er war nicht nötig, wie es schien.
Und rund um ihn war Plüsch.

Die Leute saßen zum greifen nah,
und er war doch allein.
Und in dem Spiegel, in den er sah,
saßen sie alle noch einmal da,
als müsse das so sein.

Der Saal war blaß vor lauter Licht.
Es roch nach Parfüm und Gebäck.
Er blickte ernst von Gesicht zu Gesicht.
Was er da sah gefiel ihm nicht.
Er schaute traurig weg.

Er strich das weiße Tischtuch glatt
und blickte in das Glas.
Fast hatte er das Leben satt.
Was wollte er in dieser Stadt,
in der er einsam saß?

Da stand er, in der Stadt Berlin,
auf von dem kleinen Tisch.
Keiner der Menschen kannte ihn.
Da fing er an, den Hut zu ziehn!
Not macht erfinderisch.

 

Rolf Brinkmann - Zerstörte Landschaft mit


Konservendosen,  die  Hauseingänge
leer,  was  ist  darin?  Hier  kam  ich

mit  dem  Zug  nachmittags  an,
zwei  Töpfe  an  der  Reisetasche
festgebunden,  Jetzt  bin  ich  aus

den  Träumen  raus,  die  über  eine
Kreuzung  wehn.  Und  Staub,
zerstückelte  Pavane,  aus  totem

Neon,  Zeitungen  und  Schienen
dieser  Tag,  was  krieg  ich  jetzt,
einen  Tag  älter,  tiefer  und  tot?

Wer  hat  gesagt,  daß  sowas  Leben
ist?  Ich  gehe  in  ein
anderes  Blau.

 


Hilde Domin - Ziehende Landschaft

Man muss weggehen können
und doch sein wie ein Baum:
als bliebe die Wurzel im Boden,
als zöge die Landschaft und wir ständen fest.
Man muss den Atem anhalten,
bis der Wind nachlässt
und die fremde Luft um uns zu kreisen beginnt,
bis das Spiel von Licht und Schatten,
von Grün und Blau,
die alten Muster zeigt
und wir zuhause sind,
wo wir zuhause sind,
wo es auch sei,
und niedersitzen können und uns anlehnen,
als sei es ein Grab
unserer Mutter.

 

Erich Fried - Nacht in London

Die Hände
vor das Gesicht halten
und die Augen
nicht mehr aufmachen
nur eine Landschaft sehen

Berge und Bach
und auf der Wiese zwei Tiere
braun am hellgrünen Hang
hinauf zum dunkleren Wald

Und das gemähte Gras
zu riechen beginnen
und oben über den Fichten
in langsamen Kreisen ein Vogel
klein und schwarz
gegen das Himmelblau

Und alles
ganz still
und so schön
daß man weiß
dieses Leben lohnt sich
weil man glauben kann
daß es das wirklich gibt
 

 

 

 

Theodor Fontane - Die Brück' am Tay

(28. Dezember 1879)

 

When shall we three meet again?

Macbeth

 

 

»Wann treffen wir drei wieder zusamm?«

»Um die siebente Stund', am Brückendamm.«

»Am Mittelpfeiler.«

»Ich lösche die Flamm.«

»Ich mit.«

 

»Ich komme vom Norden her.«

»Und ich vom Süden.«

»Und ich vom Meer.«

 

»Hei, das gibt einen Ringelreihn,

Und die Brücke muss in den Grund hinein.«

 

»Und der Zug, der in die Brücke tritt

Um die siebente Stund'?«

»Ei, der muss mit.«

»Muss mit.«

 

»Tand, Tand 3)

Ist das Gebilde von Menschenhand.«

*

 

Auf der Norderseite, das Brückenhaus –

Alle Fenster sehen nach Süden aus,

Und die Brücknersleut' ohne Rast und Ruh

Und in Bangen sehen nach Süden zu,

Sehen und warten, ob nicht ein Licht

Übers Wasser hin »Ich komme« spricht,

»Ich komme, trotz Nacht und Sturmesflug,

Ich, der Edinburger Zug.«

 

Und der Brückner jetzt: »Ich seh' einen Schein

Am anderen Ufer. Das muss er sein.

Nun Mutter, weg mit dem bangen Traum,

Unser Johnie kommt und will seinen Baum,

Und was noch am Baume von Lichtern ist,

Zünd' alles an wie zum heiligen Christ,

Der will heuer zweimal mit uns sein, –

Und in elf Minuten ist er herein.«

 

*

Und es war der Zug. Am Süderturm

Keucht er vorbei jetzt gegen den Sturm,

Und Johnie spricht: »Die Brücke noch!

Aber was tut es, wir zwingen es doch.

Ein fester Kessel, ein doppelter Dampf,

Die bleiben Sieger in solchem Kampf,

Und wie's auch rast und ringt und rennt,

Wir kriegen es unter, das Element.«

 

»Und unser Stolz ist unsre Brück';

Ich lache, denk ich an früher zurück,

An all den Jammer und all die Not

Mit dem elend alten Schifferboot;

Wie manche liebe Christfestnacht

Hab' ich im Fährhaus zugebracht,

Und sah unsrer Fenster lichten Schein

Und zählte und konnte nicht drüben sein.«

 

Auf der Norderseite, das Brückenhaus –

Alle Fenster sehen nach Süden aus,

Und die Brücknersleut' ohne Rast und Ruh

Und in Bangen sehen nach Süden zu;

Denn wütender wurde der Winde Spiel,

Und jetzt, als ob Feuer vom Himmel fiel',

Erglüht es in niederschießender Pracht

Überm Wasser unten ... Und wieder ist Nacht.

 

*

 

»Wann treffen wir drei wieder zusamm?«

»Um Mitternacht, am Bergeskamm.«

»Auf dem hohen Moor, am Erlenstamm.«

 

»Ich komme.«

»Ich mit.«

»Ich nenn' euch die Zahl.«

»Und ich die Namen.«

»Und ich die Qual.«

»Hei!

Wie Splitter brach das Gebälk entzwei.«

»Tand, Tand

Ist das Gebilde von Menschenhand.«

 

(Erstdruck 1880)

 

 

 

 

Erwin Moser - Gewitter

Der Himmel ist blau
Der Himmel wird grau
Wind fegt herbei
Vogelgeschrei
Wolken fast schwarz
Lauf, weiße Katz´
Blitz durch die Stille
Donnergebrülle
Zwei Tropfen im Staub
Dann Prasseln auf Laub
Regenwand
Verschwommenes Land
Blitze tollen
Donner rollen
Es plitschert und platscht
Es trommelt und klatscht
Es rauscht und klopft
Es braust und tropft
Eine stunde lang
Herrlich bang
Dann Donner schon fern
Kaum noch zu hör´n
Regen ganz fein
Luft frisch und rein
Himmel noch grau
Himmel bald blau!


 

 

 

Rolf Haufs - Er

Er schloss die Tür, die laute Tür, die von innen mit einer Eisenplatte beschlagen war, mit einer Kette im unteren Drittel, die er nur manchmal benutzte, eigentlich nur aus Spaß, wenn er Besuch hatte, oder einfach nur so, das Gefühl, in Sicherheit zu sein, das Gefühl, die Tür, die eigene Tür hinter sich zu haben, er selbst zu sein, machen zu können, was er wollte. Auch in der Küche war die Tür, durch die man in das hintere Treppenhaus gelangte, mit einer Eisenplatte beschlagen, mit einer Kette im unteren Drittel, die er nun einhängte, bevor er sich auszog, ganz auszog und nackt durch die Wohnung ging, quer durch alle Zimmer hindurch und schon daran dachte, was geschehen würde, wenn das Telefon klingelte oder jemand vor der Tür stünde, ob er den Mut haben würde, nackt ans telefon zu gehen, nackt die Tür zu öffnen, daran dachte, während erWasser über seine Füße laufen ließ, wieder durch alle Zimmer ging mit nassen Füßen und die Fußspuren betrachtete auf dem Parkettfußboden, die dunklen Abdrücke seiner Tehen, seiner Fersen. Er hatte Angst. Angst war es, die ihn daran hhinderte, etwas Vernünftiges zu tun. Er hörte auf die Geräusche im Haus, auf die Schritte im Treppenhaus, er war erleichtert, wenn die Schritte an seiner Tür vorbeigingen und der Schatten, den er durch den Spion erkennen konnte, nach oben oder nach unten verschwand. Er hörte auf die Schritte in der Wohnung über ihm, auf die Schritte des Mannes, der, wenn er ihm begegnete, kaum seinen Gruß erwiederte, auf die kürzeren, schnelleren Schritte der Frau, die immer ein dunkles Kopftuch trug, deren Stimme durch die decke drang, er lauschte, er hörte hin, ob sie über ihn sprachen, eine Beschwerde an den Hausverwalter schrieben, eine Anzeige machten, spürte, dass sie über ihn reden, dass sie sich fragten, was er denn eigentlich täte, den ganzen Tag hinter dem Fenster, den geschlossenen Vorhängen, hinter der Tür, die mit einer Eisenplatte beschlagen war, im unteren Drittel mit einer Kette. Er holte einen Stuhl und stellte ihn auf den Tisch, er kletterte auf den Tisch auf dem Stuhl, um der Decke ganz nahe zu sein, den Stimmen, die immer leiser wurden, aber so leise sie wurden, er hörte sie.

 

Wolfgang Borchert - Die Küchenuhr

Sie sahen ihn schon von weitem auf sich zukommen, denn er fiel auf. Er hatte ein ganz altes Gesicht, aber wie er ging, daran sah man, dass er erst zwanzig war. Er setzte sich mit seinem alten Gesicht zu ihnen auf die Bank. Und dann zeigte er ihnen, was er in der Hand trug. 

Das war unsere Küchenuhr, sagte er und sah sie alle der Reihe nach an, die auf der Bank in der Sonne saßen. Ja, ich habe sie noch gefunden. Sie ist übrig geblieben. Er hielt eine runde tellerweiße Küchenuhr vor sich hin und tupfte mit dem Finger die blau gemalten Zahlen ab. 

Sie hat weiter keinen Wert, meinte er entschuldigend, das weiß ich auch. Und sie ist auch nicht besonders schön. Sie ist nur wie ein Teller, so mit weißem Lack. Aber die blauen Zahlen sehen doch ganz hübsch aus, finde ich. Die Zeiger sind natürlich nur aus Blech. Und nun gehen sie auch nicht mehr. Nein. Innerlich ist sie kaputt, das steht fest. Aber sie sieht noch aus wie immer. Auch wenn sie jetzt nicht mehr geht.

Er machte mit der Fingerspitze einen vorsichtigen Kreis auf dem Rand der telleruhr entlang. Und er sagte leise: Und sie ist übrig geblieben. 

Die auf der Bank in der Sonne saßen, sahen ihn nicht an. Einer sah auf seine Schuhe und die Frau sah in ihren Kinderwagen. Dann sagte jemand: Sie haben wohl alles verloren? 

Ja, ja, sagte er freudig, denken Sie, aber auch alles! Nur sie hier, sie ist übrig. Und er hob die Uhr wieder hoch, als ob die anderen sie noch nicht kannten.

Aber sie geht doch nicht mehr, sagte die Frau. 

Nein, nein, das nicht. Kaputt ist sie, das weiß ich wohl. Aber sonst ist sie doch noch ganz wie immer: weiß und blau. Und wieder zeigte er ihnen seine Uhr. Und was das Schönste ist, fuhr er aufgeregt fort, das habe ich Ihnen ja noch überhaupt nicht erzählt. Das Schönste kommt nämlich noch: Denken Sie mal, sie ist um halb drei Stehengeblieben. Ausgerechnet um halb drei, denken Sie mal. 

Dann wurde Ihr Haus sicher um halb drei getroffen, sagte der Mann und schob wichtig die Unterlippe vor. Das habe ich schon oft gehört. Wenn die Bombe runtergeht, bleiben die Uhren stehen. Das kommt von dem Druck. 

Er sah seine Uhr an und schüttelte den Kopf. Nein, lieber Herr, nein, da irren Sie sich. das hat mit den Bomben nichts zu tun. Sie müssen nicht immer von den Bomben reden. Nein. Um halb drei war etwas ganz anderes, das wissen Sie nur nicht. Das ist nämlich der Witz, dass sie gerade um halb drei stehen geblieben ist. Und nicht um Viertel nach vier oder um sieben. Um halb drei kam ich nämlich immer nach Hause. Nachts, meine ich. Fast immer um halb drei. Das ist ja gerade der Witz. 

Er sah die anderen an, aber sie hatten ihre Augen von ihm weggenommen. Er fand sie nicht. Da nickte er seiner Uhr zu: Dann hatte ich natürlich Hunger, nicht wahr? Und ich ging immer gleich in die Küche. Da war es dann fast immer halb drei. Und dann, dann kam nämlich meine Mutter. Ich konnte noch so leise die Tür aufmachen, sie hat hat mich immer gehört. Und wenn ich in der dunklen Küche etwas zu essen suchte, ging plötzlich das Licht an. Dann stand sie da in ihrer Wolljacke und mit einem roten Schal um. Und barfuß. Und dabei unsere Küche gekachelt. Und sie machte ihre Augen ganz klein, weil ihr das Licht so hell war. Denn sie hatte ja schon geschlafen. Es war ja Nacht. 

So spät wieder, sagte sie dann. Mehr sagte sie nie. Nur: So spät wieder. Und dann machte sie mir das Abendbrot warm und sah zu, wie ich aß. Dabei scheuerte sie immer die Füße aneinander, weil die Kacheln so kalt waren. Schuhe zog sie nachts nie an. Und sie saß so lange bei mir, bis ich satt war. Und dann hörte ich sie noch die Teller wegsetzen, wenn ich in meinem Zimmer schon das Licht ausgemacht hatte. Jede Nacht war es so. Und meistens immer um halb drei. Das war ganz selbstverständlich, fand ich, dass sie mir nachts um halb drei in der Küche das Essen machte. Ich fand das ganz selbstverständlich. Sie tat das ja immer. Und sie hat nie mehr gesagt als: So spät wieder. Aber das sagte sie jedes Mal. Und ich dachte, das könnte nie aufhören. Es war mir so selbstverständlich. Das alles war doch immer so gewesen. 

Einen Atemzug lang war es still auf der Bank. Dann sagte er leise: Und jetzt? Er sah die anderen an. Aber er fand sie nicht. Da sagte er der Uhr leise ins weißblaue runde Gesicht: Jetzt, jetzt weiß ich, dass es das Paradies war. Das richtige Paradies. Auf der Bank war es ganz still. Dann fragte die Frau: Und Ihre Familie?

Er lächelte sie verlegen an: Ach, sie meinen meine Eltern? ja, die sind auch mit weg. Alles ist weg. Alles, stellen Sie sich vor. Alles weg.

Er lächelte verlegen von einem zum anderen. Aber sie sahen ihn nicht an. Da hob er wieder die Uhr hoch und lachte. Er lachte: Nur sie hier. Sie ist übrig. Und das Schönste ist ja, dass sie ausgerechnet um halb drei stehen geblieben ist. Ausgerechnet um halb drei. 

Dann sagte er nichts mehr. Aber er hatte ein ganz altes Gesicht. Und der Mann, der neben ihm saß, sah auf seine Schuhe. Aber er sah seine Schuhe nicht. Er dachte immerzu an das Wort Paradies...